Traut er sich an die Tür zu klopfen? Eine leise Stimme ermutigt, forciert ihn beinah die Treppe hinauf zu steigen. „Gehe und öffne die Tür; entdecke selbst, was ich nicht sagen kann, nicht sagen darf oder möchte…“
Claudia Reimann setzt sich seit fast zehn Jahren in ihrer Malerei mit Räumen auseinander. Ihre Sujets sind meistens humanisierte Orte, reich an architektonischen Elementen und alltäglichen Gegenständen. Einige ihrer Werke suggerieren Geschichten, so auch das Bild „Wolfenbüttelerstrasse“. Der Titel, der sich auf eine ganz bestimmte Strasse bezieht, die topographische Exaktheit des Raumes und der Gebrauch von symbolisch aufgeladenen Komponenten, wie Tür und Treppe, erzeugen eine dramaturgische Spannung. Dies erinnert uns an die narrativen Mittel der Literatur. Bilder aber wirken anders als eine Erzählung: Sie geben der Einbildungskraft des Betrachters eine größere Freiheit als eine literarische Beschreibung es beim Leser vermag. In der Malerei ist der Raum, den der Künstler betreten hat, nicht derselbe wie der, in den der Betrachter eintritt: Was hinter der Türe der „Wolfenbüttelerstrasse“ geschehen könnte, bleibt offen. Andere Werke von Claudia Reimann besitzen stark poetische Komponenten: Interieurs, in denen architektonische Linien den bewohnten Raum transzendieren. Die ineinander übergehenden Räume, wie in dem Bild „Huang Jiao Ping“, gewinnen durch das Spiel der unterschiedlichen Ebenen neue Dimensionen. Die raffinierten Farbkompositionen, die subtile Verrückung der Gegenstände schenken dem Raum Transparenz und Leichtigkeit.
Der Raum verwandelt sich in einen metaphysischen Ort: Das Zimmer in uns, wie Gaston Bachelard formuliert. Menschliche Figuren sind aus ihren Bildern verbannt, nur ihre Spuren bleiben – eine Konstante in Claudia Reimanns Werken. Der Raum ist ein sich selbst genügendes Thema.
Was die Auffassung von Raum in der Kunst angeht, sind wir längst mit den verschiedensten Darstellungs- weisen konfrontiert worden.Nicht zuletzt hat uns die Erfindung des Fotoapparats vom starren Fluchtpunkt des traditionellen perspektivischen Bildaufbaus befreit. Diese Technik organisiert zwar die Welt nach unserer optischen Wahrnehmung, reichte aber im Laufe der Zeit nicht aus, um die Dimension der modernen Existenz adäquat wiederzugeben. Bis zur Industrialisierung war das Leben ein organisches, gesellschaftliches System, in dem das Private und das Öffentlicheineinander flossen. Heute ist die Lebenswelt des Menschen zweigeteilt:
Arbeitsort da, Wohnraum hier. Man ist gezwungen, den Großteil des Tages in öffentlichen Räumen zu verbringen: U-Bahnstationen, Fast-Food-Restaurants, öffentliche Verkehrsmittel, Freizeit-Parks, Flughäfen… Diese Plätze bezeichnet Marc Augé als „Nicht-Orte“. Trotz der Menschenmenge, die sich in diesen Räumen begegnen, bleibt man meist allein. Die eigenen vier Wände wirken unter diesen Bedingungen als Identität stiftendes Refugium. Bei übersteigertem Rückzug kann jedoch dieser Fluchtort in einen Ort der Einsamkeit umkippen.
Claudia Reimann bewegt sich gedanklich stets in diesen menschlichen Räumen. In ihren Werken bedient sie sich zwar der traditionellen Mittel, wie Tafelmalerei und Zentralperspektive, sie bleibt aber immer auf der Suche nach einem eigenen Bildraum, der vom engen, ausweglosen Innenraum hin zur Unendlichkeit seiner existenziellen Dimension führt.
Elisabete Albuquerque-Wegenast